„Streng genommen kann uns eine Quelle nie sagen, was wir sagen sollen. Wohl aber hindert sie uns, Aussagen zu machen, die wir aufgrund der Quellen nicht machen dürfen. Die Quellen haben ein Vetorecht.“

(Koselleck, Standortbindung 1977, S. 45)

Geschichtswissenschaft ist…

…die Suche nach Wahrheit

Reinhard Koselleck nennt die Suche nach der Objektiven Wahrheit eine Pattsituation der Geschichtswissenschaft: Historiker*innen sind historisch und räumlich gebundenen, beanspruchen jedoch ‚Objektivität‘. Dennoch wird in der quellenkritischen Hermeneutik die Wahrheit erkennbar, sofern gleichzeitig das „Vetorecht der Quellen“ Geltung erhält. Soziologische, anthropologische, politwissenschaftliche u.a. Theorien und Ansätze helfen dabei, die Quellen kritisch zu verstehen und zu Ordnen. Der Gesellschaft wird nicht nur der eigene Spiegel (speculum vitae humanae) vorgehalten.
Historiker*innen bieten eine Interpretation fremd gewordener Vergangenheiten, deren Fragestellungen der Gegenwart entspringen: „Jede Quelle, genauer jeder Überrest, den wir erst durch unsere Fragen in eine Quelle verwandeln, verweist uns auf eine Geschichte, die mehr ist oder weniger, jedenfalls etwas anderes als der Überrest selber. Eine Geschichte ist nie identisch mit der Quelle, die von dieser Geschichte zeugt.“ (Koselleck, Standortbindung 1977, S. 44)

…kritische (Selbst-)Reflexion

Ebenso wichtig ist die „Standortbestimmung“ der Historiker*innen selbst. Vertraute und legitimierende Bilder der Vergangenheit liegen im Interesse von Individuen, Gruppen und überpersonellen Verbänden. Im Lauf der Zeit verändern sich diese Interessen und Blickwinkel auf die Vergangenheit – somit auch ihre Bilder selbst. Daher müssen immer wieder neue Fragen an die historischen Quellen gestellt und die Historiographie reflektiert werden.
Die Weltansicht, der Deutungshorizont der Historiker*innen und die verschiedenen gesellschaftlichen Konstellationen (z.B. Diskurse) bestimmen die hermeneutische Auslegung der Quellen und des Forschungsstands entscheidend mit. Es ist daher zentrale Aufgabe der Historiker*innen, die eigenen hermeneutischen Grundlagen (Zeit- und Standortbestimmung) und Techniken (Methoden der Quellenkritik) kritisch und reflexiv zu benennen sowie die anderer zu verstehen und zu analysieren.

…Erinnerung und Erinnerungspolitik

Geschichtswissenschaft findet nicht (nur) in akademischen Kreisen („Elfenbeinturm“) statt, sondern ist politisch und gestaltet Gesellschaften. Aleida und Jan Assmann haben im Rückgriff auf den frühen französischen Kultursoziologen Maurice Halbwachs gezeigt, wie ein soziales und kulturelles Gedächtnis Gesellschaften, Gruppen und Individuen konstituieren.
Die individuelle(n) und gemeinsame Erinnerung(en) bilden wiederum Normen, Werte und in der Folge Gesellschaften. Die Diskussionen um Kolonialismus seit 2019, die anhaltenden Konflikte um die ‚richtige‘ Erinnerung an die Zeit des Nationalsozialismus sowie zahlreiche pop-kulturelle Produktionen in Settings von der Antike über das Mittelalter und die Frühe Neuzeit bis zur Gegenwart sind nur einige, aber wirkungsvolle Beispiele, wie Geschichte, Geschichtswissenschaft und Erinnerung stattfinden. Sie sind gleichzeitig ein multiperspektives Instrument, auch Opfern eine Stimme und Ihnen Raum in der Erinnerung zu geben.

Literatur

  • Aleida Assmann, Das neue Unbehagen an der Erinnerungskultur. Eine Intervention, München 2013.
  • Jan Assmann, Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 1999 (2. Auflage).
  • Reinhard Koselleck, Standortbindung und Zeitlichkeit Ein Beitrag zur historiographischen Erschließung der geschichtlichen Welt, in: Reinhard Koselleck u.a. (Hrsg.), Objektivität und Parteilichkeit in der Geschichtswissenschaft, München 1977, S. 17-46.
  • Thomas Welskopp, Theorien in der Geschichtswissenschaft, in: Gunilla Budde u.a. (Hrsg.), Geschichte. Studium – Wissenschaft – Beruf, Berlin 2008.